Stillleben

Von wegen still!

»Mama! Ich geh kurz zum Wochenmarkt, meine Hausaufgaben kaufen!«, ruft Jule, bevor sie zur Tür hinausstürzt. Am nächsten Tag in der Schule staunt sie nicht schlecht, für welches Obst und Gemüse sich ihre Freunde entschieden haben.

»Kim, hast du den Hokkaido-Kürbis mitgebracht? Wow! Den verarbeitest du später wohl zu Suppe?«

»Nee, heute gibt’s Ofenkürbis mit Quark«, erwidert Kim mit einem verschmitzten Lächeln.

»Und was malst du?«, erkundigt sich Jule.

»Ich hab mich für eine Avocado entschieden. Ich mag die Farbverläufe, und ich glaube, aufgeschnitten kommt die runzlige Oberfläche so gut als Kontrast zu dem glatten Fruchtfleisch«, erklärt sie. »Weißt ja, es geht um Kontraste im Leben!«

»Bisch halt ä Käpsele, gell!« Jule zwinkert ihr zu.

»Und du, Fiona, was geht bei dir?«

»Granatapfel. Ich hab gerade auf YouTube gelernt, wie man die unter Wasser schälen kann.«

»Wir könnten ja nachher eine Schüssel im Lehrerzimmer leihen und einen Obstsalat machen, falls noch Andere Obst dabei haben.« Jules Vorschlag wird mit Begeisterung aufgenommen.

»Aber was macht Obst eigentlich zu Obst? Wer sagt eigentlich, dass das eine Obst ist und das andere Gemüse?«, grübelt Jule laut.

»Gurken und Auberginen sind Früchte!«, wirft jemand ein.

»Ja! Dein Kürbis auch!«, ruft ein anderer. »Und Erdbeeren sind keine Beeren – dafür sind aber Bananen Beeren!«

Jules Verwunderung wächst.

»Laber nich!«, ruft jemand.

Ein anderer stimmt mit ein: »Garnet!«

»Und das außen sind übrigens nicht die Samen, sondern Nüsschen«, fügt ein Dritter hinzu. »Die Bezeichnung Nüsschen für die kleinen Körnchen auf der Erdbeere dient aber nur als Name und nicht als direkte Kategorisierung im botanischen Sinne einer echten Nuss!«

Mehrere Stimmen schallen durcheinander: »Was?!«

Jule zieht ihr Biobuch aus der Tasche. »Wikipedia sagt: ›Der Begriff Scheinfrucht wird verwendet, weil die essbare, fleischige Struktur, die wir für die Frucht halten, botanisch gesehen nicht die Frucht ist. Die Früchte im biologischen Sinn sind bei Erdbeeren die kleinen, gelblich bis rötlichen einsamigen Nüsschen an der Oberfläche der roten Scheinfrucht. Erdbeeren sind eine Sammelnussfrucht.‹«

»Und Orangen«, fügt ein anderer hinzu, »sind eine Kreuzung, die es vorher gar nicht gab. Stellt euch das vor!«

Die Lehrerin tritt ein in ein Klassenzimmer voll aufgebrachter Schüler. »Leon, was ist hier los?«

Leon blickt auf, fast so, als hätte er eine Offenbarung erlebt. »Tomaten sind Beeren, und ich – bin ich überhaupt Leon?«

Das Klassenzimmer lacht, und das Gespräch geht weiter, während Jule darüber nachdenkt, wie seltsam und wundervoll die Welt ist – und wie viel es noch zu lernen gibt, selbst bei alltäglichen Dingen wie Obst und Gemüse.

Noch mehr Kunst gefällig?